Als vor 35 Jahren, am 26. April 1986, der 3. Reaktorblock im AKW Tschernobyl explodierte, gingen über 70% des Fallouts auf das Territorium der heutigen Republik Belarus nieder. Die zuständigen staatlichen Behörden ignorierten zunächst weitgehend die mit der radioaktiven Strahlung verbundenen Gefahren für die Gesundheit von Millionen Menschen. Erst drei Jahre später gelang es mutigen Wissenschaftlern und Bürgerinitiativen die Geheimhaltungspolitik des Staates aufzubrechen. Ab 1990 gab es umfangreiche staatliche Programme, um die Folgen der Reaktorkatastrophe einzudämmen und zu mildern. Ihre Umsetzung war nach der Auflösung der Sowjetunion eine enorme finanzielle Belastung für die junge Republik Belarus. Sie konnte daher nur durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure gelingen.
Ein herausragendes Beispiel für diese Solidarität ist das Kinderzentrum NADESHDA, das 1992 von deutschen Solidaritätsgruppen gemeinsam mit einer belarussischen Bürgerinitiative sowie unter Beteiligung des Staates gegründet wurde. In dieser Erholungs- und Rehabilitationseinrichtung konnten sich seit seiner Eröffnung im September 1994 über 100 000 Kinder in mehrwöchigen Ferienaufenthalten erholen. Mit der Unterstützung durch deutsche Vereine und weiteren Solidaritätsgruppen aus mehreren europäischen Ländern, Japan und den USA wurden zahlreiche innovative Projekte der Gesundheitserziehung, der Erlebnispädagogik sowie der Energieeffizienz und erneuerbarer Energien durchgeführt. So nahm das Kinderzentrum NADESHDA Mitte der 1990er Jahre als erste Einrichtung in Belarus an Schilddrüsenkrebs erkrankte Kinder auf. Seit drei Jahren bietet es als einziges Sanatorium auch Kindern mit Behinderung eine ganzjährige Betreuung und Förderung. Zudem bezieht das Kinderzentrum NADESHDA seit 2017 seinen Strombedarf zu 95% aus Solarstrom.
Die aktuelle politische Krise und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Belarus erfüllen uns daher mit großer Bestürzung und Sorge. Die staatliche Reaktion auf die Covid-19-Pandemie zeigt, dass die zentralen politischen Lehren aus Tschernobyl vergessen wurden. Wie nach dem Supergau wird das Ausmaß der Pandemie verheimlicht und verharmlost; Aussagekräftige Zahlen über die Erkrankungs- und Sterberate werden nicht veröffentlicht. Ebenso lässt die offizielle Informationspolitik zum neuen AKW, das im November 2020 in Betrieb genommen wurde, viele Fragen offen. Statt um das Vertrauen der Gesellschaft zu werben und die Wahrheit mit ihr zu teilen, konzentriert sich die politische Führung darauf, Andersdenkende zu verfolgen und zentrale Grundrechte massiv einzuschränken.
Vor 35 Jahren führte die Nuklearkatastrophe zu einer kollektiven Traumatisierung der belarussischen Bevölkerung. Sie wies aber auch den Weg zu einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch und einem neuen Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Das Motto „Tschernobyl mahnt“ gilt daher weiterhin. Das Kinderzentrum NADESHDA und alle zivilgesellschaftlichen Kräfte in Belarus brauchen heute unsere Unterstützung und Solidarität. Mit ihnen teilen wir die Hoffnung, dass die politische Systemkrise letztendlich durch einen konstruktiven Dialog der politischen Führung mit allen Bürgerinnen und Bürgern überwunden wird und es zu keiner Neuauflage des Kalten Krieges in Europa kommt. Denn die globalen und nationalen Herausforderungen, die sich aus dem Klimawandel, dem demographischen Wandel, der Digitalisierung u.a. ergeben, sind so groß, dass sie sich nur gemeinsam lösen lassen.
Kontakt:
Freunde von Nadeshda in Deutschland e.V., c/o Leben nach Tschernobyl e.V., Ludolfusstr. 2-4, 60487 Frankfurt, http://www.freunde-nadeshda.de/
Astrid Sahm (Vorsitzende, sahm.astrid@goolemail.com), Ralf Höffken (stellvertr. Vorsitzender Ralf.Hoeffken@kircheundgesellschaft.de)
Freunde von Nadeshda in Deutschland e.V.
Der Verein „Freunde von Nadeshda in Deutschland“ wurde von acht deutschen Partnerorganisationen des Rehabilitations- und Erholungszentrums „NADESHDA“ im Jahre 2015 ins Leben gerufen mit dem Ziel, gemeinsam die deutsche Trägerschaft am Kinderzentrum zu übernehmen und die Aktivitäten der Mitgliedsorganisationen zugunsten des Zentrums zu bündeln. Hierzu gehören:
· Bottroper Bürger begeistert im Einsatz (BOBBIE) e.V.,
· Freunde der Kinder von Tschernobyl Württemberg e.V.,
· Kinder von Shitkowitschi – Leben nach Tschernobyl e.V.
· Landesverband Westfalen und Lippe der Kleingärtner e.V.
· Leben nach Tschernobyl e.V.
· Männerarbeit der EKD
· Projektgruppe Kinder von Tschernobyl e.V.
· Sozialdienst evangelischer Männer e.V.
Kinderzentrum NADESHDA
Das Kinderzentrum „NADESHDA“ nimmt seit 1994 ganzjährig Kinder und Jugendliche aus den Tschernobyl-Regionen für derzeit jeweils 24 Tage zur Rehabilitation und Erholung auf. Weitere wichtige Zielgruppen sind Kinder mit Behinderung und Mutter-Kind-Gruppen. Träger sind neben dem Verein „Freunde von Nadeshda in Deutschland“ die belarussische Sozial-ökologische Vereinigung „Lebendige Partnerschaft“ und das Departement für die Überwindung der Folgen der Katastrophe im AKW Tschernobyl des Ministeriums für Notstandssituationen. Damit ist das Kinderzentrum „NADESHDA“ das einzige nicht staatlich dominierte Sanatorium in Belarus. Die Konzeption des Zentrums wurde von den Mitarbeitenden selbst gemeinsam mit belarussischen und deutschen Expertinnen und Experten erarbeitet. Sie ermöglicht eine ganzheitliche Gesundheitsförderung und ein praxisorientiertes Lernen für nachhaltige Entwicklung.
Die Presseerklärung können Sie hier herunterladen.