Wissen, Spenden und Freundschaft - die Erfolgsquellen von Nadeshda

25.03.2013
Das Kindererzentrum „Nadeshda“ feierte 2012 sein 20-jähriges Bestehen. Im Juli 1992 wurde der Grundstein zu diesem Erfolgsprojekt gelegt, das Ökonomie, Politik und Medizin mit der Idee der deutsch-belarussischen und künftigen europäischen Versöhnung verbindet. Bislang hat es schon rund 46.000 Kindern einen Erholungsaufenthalt ermöglicht.

NADESHDA wurde mit dem Ziel gegründet, in der Republik Belarus ein Erholungszentrum für Kinder aus solchen Regionen zu schaffen, die nach der Tschernobylkatastrophe radioaktiv belastet waren. Damit sollte eine Alternative zu den Erholungsaufenthalten im Ausland geboten werden, die damals in großem Stil und mit viel Hilfsbereitschaft organisiert worden waren. Das setzte zunächst mühsame Verständigungsprozesse unter den auf Übersetzungen angewiesenen belarussischen und deutschen Partnern voraus, ob sie auch dasselbe meinten und wollten. Auch musste ein Ort gefunden werden, der unbelastet war von den Folgen des Reaktorunfalls und der vielfältige Erholungsqualitäten aufwies. Wir hatten Glück als sich uns das Gelände der ehemaligen biologischen Studienbasis der Universität Minsk am Wiljeka-Stausee zum Kauf bot. Im nächsten Schritt galt es eine tragfähige Rechtsform zu finden, die das juristisch-institutionelle Fundament zur Verwirklichung unserer Idee legen konnte. Wir fanden sie in einer „Aktiengesellschaft“, deren formale Elemente es uns erlaubten, ein „gemeinnütziges privates Unternehmen“ zu gründen, eine Organisation also, die es rechtlich eigentlich gar nicht gibt, heißt „privat“ doch „kommerziell und gewinnorientiert“, und „Gemeinnützigkeit“ soviel wie „unter das Monopol des Staates fallend“. Was uns damals wie eine mühsam gezimmerte Rechtskonstruktion erschien, erweist sich im Rückblick als Glücksfall: Sie bildete den produktiven Kern eines partnerschaftlichen Entwicklungsmodells, dessen Stärke darin bestand, kreative Lösungen für unmögliche Situationen zu finden. Diese fast klischeehafte Formel sollte zum Patentrezept der Entwicklung und zum Erfolgsfaktor NADESHDAs werden, wie ich an drei Beispielen illustrieren will:

1. Als der Verein „Leben nach Tschernobyl“ (Frankfurt) und die „Männerarbeit der EKD“ als deutsche und der „Fonds Leben nach Tschernobyl“ (Minsk) als belarussischer Partner sich zur Gründung des Zentrums zusammenfanden, schlossen die Beteiligten die Regierung der immer noch kommunistischen Republik Belarus als institutionellen Mitträger zunächst aus. Im Laufe des Gründungsprozesses wurde uns jedoch unabweisbar klar, dass es die Möglichkeiten einer nur auf Spenden gegründeten Finanzierung ohne staatliche Beteiligung übersteigen würde, ein Unternehmen dieser Größenordnung aufbauen zu wollen. Wir wollten dem Staat jedoch keine Stimmenmehrheit für die Entscheidungspro­zesse zugestehen. Damit wären wir Gefahr gelaufen, zum bloß karitativen Geldgeber zu werden und die von uns konzipierten pädagogischen Reformen und die Leitungs-, Per­sonal- und Programmentwicklung staatlichen Machtinteressen auszuliefern. Wir hätten so nie das Vertrauen privater Spenderinnen und Spender und noch weniger die Unterstützung öffentlicher Institutionen wie beispielsweise der hessischen Landesregierung gewinnen können. Der Klugheit und Weitsicht des damaligen für die Tschernobylfolgen verantwortlichen Ministers Ivan Kenik war es schließlich zu verdanken, dass sich der Staat auf eine Stimmenminderheit von 20% gegenüber allen anderen Teilhabern beschränkte und trotzdem bereit war, beträchtliche Mittel in das Kinderzentrum zu investieren. Grund für diese Zurückhaltung war die Einsicht, dass der Aufbau des Kinderzentrums in jeder Hinsicht dem Gemeinwohl zugute kam und damit dem Interesse und den Aufgaben des Staates entsprach. Im Gegenzug bedeutete dies für NADESHDA, dass es einer besonderen Rechenschaftspflicht und kritisch-öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt war und ist. Dadurch entwickelte das Unternehmen nach innen und nach außen ein Höchstmass an Transparenz seiner Konzeption, Informationsbereitschaft über seine Arbeit und Gastfreundlichkeit gegenüber Interessierten.

2. Doch so bedeutsam die Beteiligung des Staates für den Bau, den Unterhalt und die technische Entwicklung des Zentrums war, so abhängig ist es dadurch von politischen, ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Entscheidungen und Rahmenbedingungen. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die staatlichen Tagessätze für den Aufenthalt der Kinder unterhalb der tatsächlichen Kosten blieben, die dem Zentrum mit seinem speziellen pädagogischen Konzept entstanden. Dieses Defizit musste es durch weitere wirtschaftliche Angebote ausgleichen, die über das Ursprungskonzept hinausgingen und neue Zielgruppen ansprachen, ohne jedoch die Grundidee des Zentrums aufzugeben. Neben dem Programm für Kinder aus den radioaktiv belasteten Gebieten schuf es Erholungsangebote für Kinder mit Erkrankungen wie Diabetes und nach Schilddrüsenoperationen, für Kinder aus sozial benachteiligten Familien und seit kurzem auch für geistig und körperlich behinderte Kinder. Daneben wurden Urlaubs- und Bildungsangebote für Familien und Betriebe entwickelt, die privat bezahlt und vor allem im Sommer intensiv nachgefragt werden. Als dritte Finanzierungssäule begann man Kindergruppen zu beherbergen, deren Erholungsaufenthalt von ausländischen Partnerorganisationen finanziert wird. Das Zentrum ist damit zu einem wirtschaftlichen Akteur geworden, der darüber hinaus als einziger größerer Betrieb in der Republik Belarus eine ökologische Landwirtschaft zur Eigenversorgung und eine nachhaltige Energieversorgung aufgebaut hat. Zwar ist die landwirtschaftliche Produktion vor allem aufgrund der staatlichen Preispolitik noch nicht kostendeckend, doch halten wir an diesem integrierten ökologischen Konzept fest und rechnen künftig mit weiteren und nachhaltigen Verbesserungen. 

3. Zwar standen die Politik und das Recht, die Medizin und die Ökonomie Pate bei der Gründung des Zentrums. Der Ursprung des „Projekts NADESHDA“ gründet jedoch in einer Idee: der Idee der Versöhnung. Mit der deutsch-belarussischen Partnerschaft verbindet sich die Hoffnung, aus einem Teil der unheilvollen Verstrickung in die europäische Gewalt- und Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts herauszutreten. Versöhnung so verstanden heißt, einen von der Hypothek der Vergangenheit entlasteten Neubeginn durch gemeinsame Praxis zu initiieren. Dies ist ganz wörtlich gemeint. So gab es nicht nur eine Fülle von Arbeitseinsätzen deutscher Handwerker zwischen siebzehn und siebzig, vermittelt insbesondere durch die Männerarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen; auch die Vielzahl an Seminaren und Besuchen von Experten und Expertinnen der Medizin, Pädagogik, Psychologie, der Bau- und Elektrotechnik, der Verpflegungs- und Sanitärbranche spricht für das integrierte Konzept. Als zentraler „Wissensmakler“ wirkte dabei der „Verein Leben nach Tschernobyl“.

Dritte Erfolgsquelle ist insofern die Fähigkeit des Zentrums, Wissens-, Spenden- und vor allem Freundschaftsakquise miteinander zu verflechten und ein europaweites Netz an Kontakten- und Freundschaften geknüpft zu haben. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dem Zentrum trotz vielfältiger widriger politischer Rahmenbedingungen seine programma­tische Selbstständigkeit, seine politisch-zivilgesellschaftliche Reputation und seine eigen­ständige Entwicklungs- und Zukunftsperspektive zu bewahren: zum Wohle der rund 46.000 Kinder, die schon dort waren, und derjenigen, die noch kommen werden.

Andreas Seiverth