Fukushima 11. März 2011 – Tschernobyl 26. April 1986
Was die Zäsur von Fukushima von uns verlangt:
Praktische Solidarität – politische Entscheidungen – Emotionale und wissenschaftliche Intelligenz
Seit dem 11. März 2011 sind wir Augenzeugen einer Naturkatastrophe, die tausenden Menschen das Leben kostete, Hunderttausende obdachlos machte und eine unvorstellbare Verwüstung und Zerstörung von Städten und Dörfern angerichtet hat. Der Tsunami hat zudem ein Kernkraftwerk überflutet und dessen Kühlsysteme zerstört; seither kam es zu mehreren Explosionen, Beschädigungen der Sicherheitsbehälter, Radioaktivität tritt kontinuierlich aus und die Gefahr einer Kernschmelze ist nicht gebannt. Die Ausbreitung der radioaktiv belasteten Luft hängt von den Wetterlaunen und Windrichtungen ab. Das Unvorstellbare und Unwahrscheinliche ist Realität geworden, eine Katastrohe apokalyptischen Ausmaßes.
Anders als vor 25 Jahren in Tschernobyl sind wir vom ersten Augenblick an Zeugen der Verheerungen und des Leidens, das über die Menschen gekommen ist. Am 26. April 1986 wurde die Katastrophe durch ein fehl gelaufenes irrwitziges Experiment und eine Kette von menschlichen Fehlentscheidungen verursacht. Damals konnten die Verantwortlichen Tage lang verschweigen, dass der Reaktor explodiert war; erst eine Woche nach dem Unglück wurden die Menschen im Umkreis von 30 km, der „Todeszone“, evakuiert. Die Wahrheit über Tschernobyl wurde in der Republik Belarus hinter einer „Mauer des Schweigens“ jahrelang verborgen, ehe sie durch einige mutige Wissenschaftler und Bürgerinitiativen ab 1990 öffentlich artikuliert wurde. Die Wahrheit über Tschernobyl, das waren radioaktiv verseuchte Gebiete, verlassene Dörfer, aufgegebene Landwirtschaften, tausende an Schilddrüsenkrebs und einer Dauerschädigung ihres Immunsystems erkrankte Kinder, und zur Wahrheit gehört auch, dass insgesamt eine halbe Million Menschen zu Opfern wurden, die bei den Löscharbeiten des brennenden Reaktors eingesetzt und extremen Strahlenbelastungen ausgesetzt worden waren, deren Gesundheit zerstört und von denen in den Folgejahren mindestens 4000 unmittelbar an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung gestorben sind.
Michail Gorbatschow wurde erst vier Tage nach dem Unfall informiert. Nach Fukushima bedurfte es eines Wutausbruchs des japanischen Premierministers („Was zum Teufel ist hier los?“) bis sich die Manager des Atomkraftbetreibers Tepco dazu bereitfanden, ihre Verharmlosungen, ihre Ignoranz und ihre Desinformationen über die reale Gefahr einer atomaren Katastrophe aufzugeben. Ein paar der für das Kernkraftwerk Tschernobyl verantwortlichen Ingenieure wurden mit Gefängnisstrafen belegt. Die heutigen Verantwortlichen werden bestenfalls entlassen werden können. Noch nicht einmal Schadenersatzklagen haben die Kernkraftwerksbetreiber zu befürchten, weil die Nuklearbranche das Haftungsrisiko weder tragen kann noch muss; auch deutsche Kernkraftwerksbetreiber können sich auf die Haftungsbefreiung der Nuklearbranche stützen. Der „Rückversicherer für den Schadensfall“ ist der Staat und die Gesellschaft, wir alle. Nur mit dieser Haftungsbefreiung und den dafür eingesparten Kosten und weil die Kosten für die Entsorgung und Endlagerung des über Jahrtausende strahlenden radioaktiven „Abfallmaterials“ nicht in die ökonomische Kalkulation einbezogen werden, ist Atomstrom überhaupt konkurrenz-fähig und „billig“. Die Profiteure der Atomindustrie nutzen zynisch ihre „Freistellung“ von der juristischen Haftungsnotwendigkeit und von der tatsächlichen Haftungs-möglichkeit im Schadensfall; dafür muss das Restrisiko statistisch gegen null gerechnet und müssen Sicherheitsauflagen begrenzt oder ganz ignoriert werden, damit die ökonomische Rentabilität nicht gefährdet und die politische Legitimität nicht in Frage gestellt wird.
Die Republik Belarus (Weißrussland) musste im ersten Jahrzehnt nach der Katastrophe 20% ihres Staatshaushalts ausschließlich für die Bekämpfung und Linderung der Folgen von Tschernobyl aufwenden; die Aufwendungen sind im Jahr 2006 auf 2,1% gesunken. Es wurde ein eigenständiges „Tschernobylkomitee“ geschaffen, das inzwischen in eine Abteilung des Ministeriums für Notstands-situationen umgewandelt worden ist. Die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 brachte mit der formellen Unabhängigkeit von Weißrussland auch die Alleinzuständigkeit für die Katastrophenfolgen. Die staatlichen Verantwortungsträger für Tschernobyl, die für die Schäden mit hätten in Anspruch genommen werden können, gab es nicht mehr. Der Preis für die staatliche Unabhängigkeit und Selb-ständigkeit ist daher auch die energiepolitische Abhängigkeit und Erpressbarkeit von Russland. Beides liefert die Begründung dafür, dass das Land, das unter den Folgen von Tschernobyl in jeder Hinsicht am meisten gelitten hat, ernsthaft den Bau eines Atomreaktors plant, an dessen Realisierung sich der deutsche Siemenskonzern beteiligen will. Unter den Bedingungen des autoritären Lukaschenko-Regimes ist dies auch durchsetzbar und nur die fehlende Finanzierungssicherheit hat bisher die schnelle Umsetzung des Plans verhindert. Die wurde allerdings in diesen Tagen hergestellt: Anlässlich des Besuchs von Premierminister Putin in Minsk wurde am 15. März 2011 die Kreditvereinbarung zwischen Russland und der Republik Belarus abgeschlossen.
Das einzige bleibende politische Resultat der Tschernobylkatastrophe in Deutschland war die Schaffung des Umweltministeriums, das bis zur rot-grünen Koalition seine Aufgabe darin gesehen hat, die politische Legitimität und ökonomische Unverzichtbarkeit von Atomstrom zu sichern. Es bedurfte erst der medial in Echtzeit vermittelten Gewalt, des Schreckens und der Angst vor dem atomaren Gau in Fukushima, um das aus Drohungen, Ignoranz und Lügen geschnürte Machtbündnis von willfährigen und erpressbaren Politikern und zu jeder Pression bereiten und fähigen Chefs der Energiekonzerne über Nacht aufzulösen. Das macht uns ebenso fassungslos wie deprimiert, weil es die Willkürlichkeit und Willfährigkeit in unseren gegenwärtigen politischen Entscheidungs- und demokratischen Willensbild-ungsprozessen offenbart, sobald ein gut organisiertes ökonomisches und politisches Erpressungspotential auf den Plan tritt. Am gleichen Wochenende, an dem die Welt Zeuge der natur- und menschenverursachten Katastrophe in Japan wurde, haben sich die Finanzminister der EU darum bemüht, einen „Krisenmechanismus“ gegen die Wiederholung der Finanzkrise und den möglichen finanziellen Zusammenbruch europäischer Staaten zurechtzuzimmern, gegen die gefahren einer Finanzkrise, die ihrerseits beinahe zum Super-GAU des Finanzkapitalismus geworden wäre. Damals, vor zwei Jahren sprach die Bundeskanzlerin davon, es dürfe sich niemals wiederholen, dass „Staaten erpressbar“ werden. Wenn Banken zu groß sein können, um sie „fallen“ zu lassen, um wie viel größer und gefährlicher sind dann Atomreaktoren, zu deren Sicherung und Erhaltung nicht einmal mehr Staaten und ganze Gesellschaften ausreichen und eintreten können, weil ihre „Krise“ und deren Folgen sich jeder Berechnung entziehen?
Wir sind entsetzt und schockiert, in welch dramatischer Weise wiederholte Warnungen und vielfach geäußerte Kritik an der Nichtbeherrschbarkeit von Atom-kraftwerken in Krisenfällen bestätigt worden sind. Die verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit des statistischen Kalküls, mit dem das reale „Restrisiko“ errechnet wurde, steht nun im umgekehrten Verhältnis zu den unberechenbaren Folgen des „eingetretenen Risikos“. Weil wir als Verein „Leben nach Tschernobyl“ seit mehr als zwanzig Jahren den Grundsatz nicht verrechenbarer Solidarität mit den Opfern der Tschernobylkatastrophe praktizieren, kommt aus unserer Sicht nun alles darauf an, der Zäsur, die das Reaktorunglück in Fukushima weltweit bedeutet, mit praktischer Solidarität, mit unumkehrbaren politischen Entscheidungen und mit emotionaler und wissenschaftlicher Intelligenz zu entsprechen. Gestützt auf unsere langjährigen Erfahrungen fordern wir als Verein Leben nach Tschernobyl e. V.:
1. Einen von der Bundesregierung großzügig ausgestatteten Unterstützungsfond für die Hilfe der vom Tsunami und der Reaktorkatastrophe schwer getroffenen Menschen. Die langfristige partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den atomkritischen Oppositionsgruppen in Japan, um die Erfahrungen von Fukushima nicht den vermeintlichen Zwängen des Vergessens und Verdrängens und den medialen Aufmerksamkeitskonjunkturen anheimfallen zu lassen. Dazu sollte ein internationales Dokumentations- und Informationszentrum in Japan aufgebaut werden. 25 Jahre nach Tschernobyl sollten die aktuellen Bemühungen des Zentrums NADESHDA, des Vereins Leben nach Tschernobyl und des Internatio-nalen Bildungs- und Begegnungszentrums in Minsk, ein Dokumentationszentrum für eine aktive Erinnerungskultur an die Opfer der Tschernobylkatastrophe aufzubauen, sollten im gleichen Maße durch öffentliche Mittel unterstützt werden.
2. Einen parteiübergreifenden Konsens zum definitiven und schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergieerzeugung. Mit der gleichen politischen Energie, mit der eine nur den Energiekonzernen dienende Laufzeitverlängerung durchgesetzt wurde, müssen alle Anstrengungen für eine Energiewende unternommen und nachhaltig unterstützt werden, die sich auf die Nutzung aller verfügbaren alternativen Energieträger und Energieeinsparpotentiale stützen. Die Atom-energiewirtschaft unter eine dauerhafte strenge öffentliche Kontrolle zu stellen und bestehende sowie weitere notwendige Sicherheitsvorschriften konsequent umzusetzen.
3. Gegenüber den Verharmlosungspraktiken der Atomlobby in Japan und bei uns die Ängste und Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und durch alle notwendigen Vorsorgemaßnahmen Rechnung zu tragen. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Akzeptanz. Die Kritik an der Atomtechnologie und die berechtigte Angst vor weiteren, durch sie verursachten „Schadensfällen“, müssen wir in die umfassende Mobilisierung wissenschaftlicher Intelligenz, in kollektive Lernprozesse und in soziale Phantasie umsetzen. Konzepte dezentraler Energie-versorgung und die solidarische Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger müssen wir den Energiemonopolen und ihrer politischen Macht entgegensetzen.
4. Den Siemenskonzern fordern wir nun zum dritten Male auf, sich definitiv nicht an den Planungen eines Atomkraftwerks in der Republik Belarus zu beteiligen.
Frankfurt, den 22. März 2011
Andreas Seiverth
Vorsitzender, Verein Leben nach Tschernobyl e. V.