Aktives Lernen aus Tschernobyl

16.01.2013
Im Porträt: Heinrich Hesse

Heinrich Hesse ist seit 1979 mit einer einjährigen Unterbrechung durch einen Englandaustausch als Lehrer für Englisch sowie Politik und Wirtschaft an der König-Heinrich-Schule in Fritzlar tätig. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gründeten seine Frau und er mit einigen FreundInnen 1990 den Verein „Solidarisch leben“. Zu seinem besonderen Anliegen gehört es, seinen Schülern das Thema Tschernobyl nahezubringen. Regelmäßig lädt seine Schule daher Vertreter des Kinderzentrums „Nadeshda“ nach Fritzlar ein, damit diese im Unterricht aus erster Hand über die andauernden Folgen der Reaktorkatastrophe für die Altersgenossen seiner Schüler berichten. Der jüngste Besuch von Nadeshda-Direktor Slawa Makuschinskij sowie Alexander Ruchlja und Wladimir Kudin von unserem Partnerverein „Leben nach Tschernobyl“ in Minsk fand am 15. November 2013 statt.

Frage: Warum ist es Ihnen so wichtig, dass Ihre Schüler mehr über die Auswirkungen von Tschernobyl erfahren? Was sollen die Schüler Ihrer Vorstellung nach an dem Beispiel Tschernobyl lernen?

Hesse: Die Auswirkungen der Tschernobylkatastrophe sind derart dramatisch und auch so lange andauernd, dass sich solch ein „Unfall“ nicht wiederholen darf. Da das Wissen darum in der Flut tagesaktueller Nachrichten unterzugehen droht, ist es wichtig, dass auch die „Nachgeborenen“ erfahren, was seinerzeit in der Illusion, alles sei technisch beherrschbar, passiert ist, wie die Politik die Menschen z. T. zu verschaukeln versucht hat und wie noch heute die Umwelt und die Menschen davon betroffen sind. Dieses Wissen ist eine Voraussetzung dafür, dass die Menschen von der Politik fordern, dass sie sich zentral um sie und ihre Lebensinteressen anstatt um die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen kümmert. Konkret: So aufgeklärt werden viele die Kernenergie ablehnen und den entsprechenden Druck auf die Politik ausüben.

Frage: Anhand des Kinderzentrums „Nadeshda“ zeigen Sie den Schülern auch, wie viel solidarisches Engagement erreichen kann. Die Schüler erweisen zudem gemeinsam mit Lehrern und Eltern selber Unterstützung, indem die Erlöse aus dem alle drei Jahre stattfindenden Schulfest „Budenzauber“ zu einem großen Teil für „Nadeshda“ gespendet werden. Wieso ist „Nadeshda“ aus Ihrer Sicht ein geeignetes Schulprojekt?

Hesse: Am Projekt „Nadeshda“ als Antwort auf Tschernobyl sehen SchülerInnen beispielhaft, dass Menschen unterschiedlicher Nationalität, Sprache, Kultur und persönlicher und gesellschaftlicher Erfahrung ‒ dazu gehört auch der 2. Weltkrieg ‒ solidarisch handeln und eine gemeinsame Zukunft gestalten können. Ché Guevara hat in diesem Sinne einmal gesagt „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“. Wenn sich junge Menschen an einem solchen Prozess aktiv beteiligen können, lernen sie, dass viele Finger eine starke Hand oder notfalls auch Faust ergeben, dass man also nicht auf die „große Politik“ warten muss oder gar auf sie bauen sollte, sondern als soziales Wesen selbst gesellschaftlich und politisch aktiv werden kann und soll, und zwar über Grenzen hinweg.

Frage: Anlässlich des 20. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe sind Sie mit Schülern zu einer Projektwoche nach „Nadeshda“ gefahren. Welche Bedeutung hatte diese Fahrt für Sie und Ihre Schüler?

Hesse: In diesem Projekt, das von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt wurde, haben wir eine Woche lang mit all unserer Unterschiedlichkeit mit belarussischen jungen Erwachsenen, die zu den ersten „Nadeshda“-Kindern gehörten, gearbeitet, über Gott und die Welt geredet, Ausflüge gemacht, geweint, gelacht, Musik gemacht und Fußball gespielt, zusammen gegessen und getrunken – kurz, gelebt. Und genau darin liegt die Bedeutung dieser Tage.

Da wir diese Woche hindurch von einer Journalistin unserer Lokalzeitung begleitet wurden, die täglich einen Tagebuchbericht geschrieben hat, waren auch die Menschen der Region Fritzlar mit einbezogen und haben viel erfahren über Belarus, Tschernobyl und „Nadeshda“.

Frage: Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?

Hesse: Bei dem Besuch von Herrn Makuschinskij, Herrn Ruchlja und Herrn Kudin haben einige Schülerinnen gefragt „Können wir da auch mal hinfahren?“ Und so haben wir gemeinsam mit einer lieben Kollegin, die schon seinerzeit an dem eben genannten Projekt beteiligt war, und unserem Schulleiter die Idee ausgeheckt, im Jahr 2014 zum 20. Jahrestag der Eröffnung des Zentrums wieder mit einer Schülergruppe nach „Nadeshda“ zu fahren, um dort mit Gleichaltrigen, also 16‒17-jährigen, im interkulturellen Sinn „etwas auf die Beine zu stellen.“

Das Interview führte Astrid Sahm.